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Das Rätsel um die toten Kicker

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    Das Rätsel um die toten Kicker

    © stern.de 1995-2003

    Originalbericht: http://www.stern.de/wissenschaft/koe...11516&nv=ct_mt

    Das Rätsel um die toten Kicker

    Raffaele Guariniello spricht leise, für einen Italiener unfassbar leise. Er ist ein zierlicher kleiner Mann mit Brille, Staatsanwalt am Turiner Gericht, zuständig für Umwelt und Gesundheit. "Großinquisitor" nannte der "Corriere della sera" den 62-Jährigen wegen seiner gestrengen Verhöre italienischer Sportler. Seit fünf Jahren ermittelt Guariniello in der Welt der Kicker wegen Betrugsverdachts. Dabei stieß er auf die Nervenkrankheit ALS. Es schien eine mysteriöse Häufung von Fällen zu geben. Vom Forschungsinstitut des italienischen Gesundheitsministeriums hatte der Ermittler die Biografien von 24 000 Spielern der drei Profi-Ligen aus den Jahren 1960 bis 1996 sichten lassen. Spezialisten stöberten in Krankenakten und Spielberichten, sogar in Fußball-Sammelheften, die sie auf Flohmärkten erstanden.
    "Die Ergebnisse waren fürchterlich", erzählt Guariniello. Demnach sind Fußballer für gewisse Krankheiten weit anfälliger als der Durchschnitt der Bevölkerung. Die Forscher fanden 420 anormale Todesfälle - darunter acht ALS-Opfer. "Laut Statistik hätten es aber nur 0,61 sein dürfen", sagt Guariniello, "nicht einmal einer." In ganz Italien leiden 4000 Patienten an ALS.

    Die Experten beschlossen, auch die Zeit nach 1996 zu untersuchen. "Bis heute sind 28 weitere Fußballer an ALS erkrankt, acht davon sind gestorben", sagt Guariniello. Zu den Opfern zählen Giorgio Rognoni, er spielte in den 60er und 70er Jahren beim AC Mailand, Guido Vincenzi (Sampdoria und Inter Mailand, 80er Jahre); Armando Segato, Mittelfeldspieler beim AC Florenz aus der Meistermannschaft 1955/56; Attilio Tassi (Cremona, 60er und 70er Jahre) und Ubaldo Nanni, der Ende der 70er beim Drittliga-Klub Pisa verteidigte. Die anderen Namen sind geheim. Man weiß: Es ist auch eine Frau darunter, eine Spielerin von Real Turin. Sie starb 1991. Einige Sportler erkrankten noch vor dem 30. Lebensjahr. Drei Spieler starben vor dem 39. Lebensjahr, sechs, bevor sie 50 Jahre alt waren.
    Fast alle ALS-Opfer spielten in der Abwehr oder im defensiven Mittelfeld - da, wo man wie nirgends sonst seine Knochen hinhalten muss. Wo Kicker am härtesten einsteigen, wo sie am häufigsten grätschen, wo sie harte Bälle wegköpfen. Guariniello fürchtet, dass der Raubbau am Körper ALS auslöst. Er recherchiert, sammelt, interpretiert. "Fußballern, die Knochenbrüche oder schwere Prellungen erlitten haben, werden Medikamente verschrieben, damit sie so schnell wie möglich aufs Spielfeld zurückkehren, ohne dass die Spieler wirklich wieder gesund waren", lautet seine Einsicht. Er stützt sich auf Aussagen von Angehörigen, Kollegen, Trainern und Klubärzten.
    Als Guariniello im Januar 2001 vier Stunden lang die Frau des ehemaligen Abwehrchefs von Sampdoria Genua, Gianluca Signorini, befragte, erzählte sie ihm, dass ihr Mann immer Schmerzmittel nahm, um weiterspielen zu können. Drei Jahre lang litt Signorini an ALS. Im November 2002 starb er.

    Guariniello hat den Glauben an den fairen Wettkampf verloren. Ein Klub gewinnt in Italien nicht allein dank der Kunstschüsse seines Stars oder des Torriechers seines Stürmers. Es gibt auch Siege aus der Apotheke. "Einige Fußballer schlucken und spritzen, was das Zeug hält", sagt der Staatsanwalt. Wunderpillen, Wachstumshormon, Amphetamine, Cortison, Anabolika auf der Basis von Nandrolon. Guariniello fand heraus, dass italienische Spieler schon in den 70er und 80er Jahren Nandrolon einnahmen.

    Könnten die verbotenen Mittel Ursache der ALS-Häufung sein? Guariniello ließ im dopingverseuchten Radsport eine Gegenprobe machen. 6000 Fahrer, Aktive und Ehemalige, wurden untersucht. Es fand sich kein einziges ALS-Opfer. "Motoneurone", jene Nervenzellen in Gehirn und Rückenmark, die die Muskulatur steuern, gehen bei der ALS zugrunde. Aber warum? Nur bei der so genannten familiären ALS sind die Wissenschaftler fündig geworden: Zwei Gene wurden identifiziert, die im Zusammenhang mit der Erkrankung stehen. Doch nur die wenigsten ALS-Patienten, weniger als fünf Prozent, leiden an der erblichen Form.

    Was verursacht die übrigen 95 Prozent der Krankheitsfälle? Eine Autoimmunerkrankung, bei der das Abwehrsystem gegen die eigenen Nervenzellen Amok läuft? Diese Hypothese wurde widerlegt. Ist eine Störung in der Ernährung der Motoneurone verantwortlich? Dafür spricht die medizinische Logik. Denn die motorischen Neurone, die bei ALS erkranken, sind die größten Nervenzellen des Körpers, sie gehören zu den längsten Zellen des Körpers überhaupt, erklärt der Neurologe und Wissenschaftler Thomas Meyer, der die ALS-Ambulanz der Berliner Charité leitet. "Der Ursprung des ersten Motoneurons liegt in der Großhirnrinde, es erstreckt sich dann über etwa einen halben Meter bis ins Rückenmark." Je länger eine Zelle, desto schwerer ist ihre Ernährung.
    Oder ist die Signalübertragung durch bestimmte Botenstoffe gestört? Diese Theorie wird gestützt durch die Erfolge des momentan einzig wirksamen Medikamentes gegen die ALS: Rilutek (Wirkstoff Riluzol). Es hemmt die Aktivität des Botenstoffs Glutamat, der, so die Hypothese, bei der ALS in zu hoher Konzentration vorliegt und so die Nervenzellen schädigt. Auch diese Annahme ist provisorisch: Rilutek verzögert die ALS nur, es vermag die Krankheit nicht zu stoppen oder gar zu heilen. In einer Studie verlängerte es das Leben im Beobachtungszeitraum von 18 Monaten um drei Monate. Im Durchschnitt sterben die ALS-Kranken drei bis fünf Jahre nach Diagnosestellung. Etwa zehn Prozent leben länger, manche mehr als zehn Jahre, wenige noch länger. Todesursache ist meist die Luftnot.

    Harmlos erscheint die Krankheit zu Beginn. Die Befallenen merken an Ungeschicklichkeiten, dass etwas nicht stimmt. Die Schrift wird undeutlich, Handarbeit fällt schwer, Stolperer, vor allem auf unebenem Boden, häufen sich, die Sprache wird undeutlich, Schluckstörungen stellen sich ein. Diese zum Teil unspezifischen Symptome machen es den Medizinern mitunter schwer, die richtige Diagnose zu stellen. Manche Kranke haben eine Ärzte-Odyssee hinter sich. "Wenn wir die Patienten das erste Mal sehen, fragen wir sie, ob sie regelmäßig Sport getrieben haben", sagt Meyer. Der Zusammenhang zwischen Sport und ALS ist schon länger bekannt. Er hat der Krankheit zu ihrem zweiten, in den USA geläufigeren, Namen verholfen: Lou Gehrig's Disease. Gehrig war ein Baseball-Star, der 1941 an der Krankheit starb. In Amerika sind ebenfalls auffallend viele Sportler unter den ALS-Betroffenen. Vor gut einem Jahr veröffentlichte der ALS-Experte Lewis Rowland in einem Fachjournal eine Studie, die einen Zusammenhang zwischen ALS und dem Ausüben von Hochschulsport nahe legt. Ist Sport per se ein Risikofaktor für die Nervenkrankheit? "Wer regelmäßig Sport treibt, hat ein statistisch erhöhtes Risiko, an ALS zu erkranken. Es ist denkbar, dass körperliche Aktivität neben genetischen Faktoren und dem Zusammenspiel mit bisher unbekannten Umwelteinflüssen zum Risiko von ALS beitragen können", sagt Meyer.

    Eine schlüssige Erklärung dafür hat die Medizin nicht. Meyer spekuliert in mehrere Richtungen. Ihre Größe könnte die Motoneurone anfällig werden lassen. Durch Sport sei ihr Stoffwechsel zusätzlich erschwert. Zum anderen sind sie bei körperlicher Aktivität stärker beansprucht, "sie feuern mehr", sagt Meyer. Der US-Experte Rowland denkt in eine andere Richtung. Wer sich körperlich betätige, könnte "Umweltgiften stärker ausgesetzt sein", interpretiert er seine Studienergebnisse. Andere Spezialisten erklären den Zusammenhang zwischen ALS und Sport, speziell Fußball, mit häufigen Verletzungen, die auch die Motoneurone schädigen könnten.
    Es ist der Abend, an dem Juventus Real Madrid im Halbfinale der Champions League bezwingt. Autos fahren hupend durch die Innenstadt, auf den Straßen liegen sich Menschen in den Armen. Raffaele Guariniello sitzt an seinem Schreibtisch. Er arbeitet gern nachts, weil ihn dann keiner stört, auch das Telefon nicht. Guariniello legt eine CD auf und hört Don Giovanni. Fußball interessiert ihn nicht mehr. Als Junge war er Fan von Juve. Die schon verblassende Leidenschaft erlosch, als er im Sumpf des italienischen Sports zu wühlen begann.

    Er klagte Juventus an, weil der Rekordmeister seinen Spielern Kreatin verabreichte. Er brachte den Radprofi Marco Pantani wegen der Einnahme des Blutdopingmittels Epo vor Gericht. Guariniellos Hartnäckigkeit führte dazu, dass Italien seit knapp zwei Jahren so hart gegen Dopingsünder vorgeht wie kein anderes europäisches Land. Wer ertappt wird, muss mit bis zu drei Jahren Haft rechnen. Guariniello ist glaubwürdig und hartnäckig. Das ist im italienischen Behördenleben so selten wie ein Regentag auf Sizilien. Er hat so das Vertrauen der Menschen gewonnen. Vor Monaten noch stieß er auf eine Mauer des Schweigens. Omerté in der ehrenwerten Fußballgesellschaft. Heute bekommt er fast wöchentlich Anrufe von ehemaligen Spielern, die über Schmerzen klagen und über Symptome, die dem Krankheitsverlauf der ALS-Opfer entsprechen.

    36 Fälle, 16 Tote - in keinem anderen Land sind Fußballer so ALS-gefährdet wie in Italien, scheint es. Guariniello zweifelt daran: "Wenn es in Deutschland, Großbritannien, Spanien oder Frankreich auch solche umfassenden Untersuchungen gäbe wie bei uns, dann würde mehr herauskommen", sagt er.

    In Schottland zum Beispiel wurde die Erkrankung des Stürmers Jimmy Johnstone von Celtic Glasgow bekannt, in Deutschland die von Krzysztof Nowak. Der englische Fußball-Verband lässt von Neurologen prüfen, ob Kopfbälle oder schwere Fouls das Siechtum auslösen können. Eine amerikanische Studie, so Guariniello, habe diesen Verdacht aufgebracht. "Das könnte erklären, warum ALS bisher vor allem bei Abwehr- und Mittelfeldspielern vorkam und weniger bei Angreifern."
    Die ALS-Fälle in Italien häufen sich nicht nur auf bestimmten Spielerpositionen. Sie betreffen vor allem einige wenige Klubs. Deshalb geht Guariniello auch der Doping-Hypothese weiter nach: "Bei Verhören haben ehemalige Mitglieder dieser Vereine zugegeben, dass bei ihnen bestimmte Substanzen verabreicht wurden", sagt er. Mitte Mai leitete der Staatsanwalt Ermittlungsverfahren gegen fünf Klubs ein. Sampdoria Genua (jetzt 1. Liga) und Pisa (3. Liga), sollen die Hauptverdächtigen sein, mutmaßt die italienische Presse. Guariniello glaubt, bis Ende des Jahres ausreichend Beweise gefunden zu haben, um Anklage wegen fahrlässiger Tötung erheben zu können.

    In mehr als 35 Arbeitsjahren hat Raffaele Guariniello nie jemanden ins Gefängnis gebracht. Wenn es zum Prozess kommt, gibt er die Fälle ab. "Wenn ich im Zuge meiner Arbeit die Ursachen für ALS herausfinde", sagt er sotto voce, "bekomme ich vielleicht den Nobelpreis für Medizin." Er lächelt. Es ist ein trauriges Lächeln.
    Giuseppe di Grazia und Jan Schweitzer
    „Wer ruhig leben will, darf nicht sagen was er weiß und nicht glauben was er hört.“
    (Arabisches Sprichwort)
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